Inhalt:

Kenntnisreich und unterhaltsam schreibt der Autor, der 2009 für seine literarischen Verdienste um den Niederrhein den „Rheinlandtaler“ verliehen bekam, über Heimat als Amputationsschmerz und Leideform, als Liebe ohne Bodenhaftung und ewiges Krähwinkel, als nostalgischer Reflex und lebensgefährliches ideologisches Konzept, aber auch als humanistische Zielvorstellung und utopische Glücksverheißung. Und schließlich schreibt er über seine Heimat: den Niederrhein. Der wird seit einigen Jahren - nicht nur aus touristischen Vermarktungsgründen - zu einer Region stilisiert, die "Heimat" sein soll. Ein gemeinsamer territorialer Lebensraum zur Schaffung eines kollektiven Selbstbildes anhand von Kollektiveigenschaften der Bewohner, die trotz aller offensichtlichen Unterschiede, geglaubt und öffentlich bekundet werden. Das führt sofort zu der Frage: Gibt es den Niederrhein überhaupt, oder haben wir es mit einer schon jahrhundertealten Landschaftssimulation zu tun?

Paul Eßer möchte mit seinen fundierten Gedanken und hintergründigen Geschichten über Heimat und die Region Niederrhein den Leser anregen, sich meinungsstark und kritisch in die aktuelle Diskussion über Heimat, Migration, Überfremdung etc. einzubringen, und ihm bei der Beantwortung der Frage helfen: Gibt es eine niederrheinische Identität, und kann sie meine Heimat sein?


Informationen:

Heimat. Niederrhein

Verlag: BoD 2020

Preis: 17,90 €    auch als E-Book (7,99 €)

148 Seiten, mit farbigen Abb., Hardcover

ISBN-13: 9783750470804

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Rezensionen:

NRZ, 14.1.2021, Rezension Heimat Niederrhein

 

Heimat: Niederrhein. Oder etwa nicht?

NRZ 14.01.2021, 07:00 |

Heike Waldor-Schäfer

Was ist Heimat, fragt Niederrhein-Autor Paul Eßer. Gibt es eine spezielle Niederrhein-Psychologie? Und dann legt er los....

Das kennen Sie ja bestimmt auch: Will man den Niederrhein beschreiben, geht das ganz oft so: Niederrhein, das ist da, wo Himmel und Erde sich berühren, wo das flache Land den Himmel küsst, wo Kopfweiden und grasende Kühe grüßen, die Sonne golden gen Niederlande versinkt und Schiffsdiesel gemütlich über den Strom tuckern.

Wo der Nebel geboren wird und Hanns Dieter Hüsch unsterblich ist.

Und die Menschen: Naja, niederrheinisch eben, so eine Mischung aus bodenständiger Sturheit und leicht versteckter, fahrradfrohlockender Herzlichkeit. Na denn, willkommen im Klischee!

Wobei wir am Niederrhein ja selbst ein bisschen daran schuld sind, dass wir uns so ins platte Idyll verfrachten – als wenn da nicht auch noch Anderes wäre. Nun, einer, der immer einen dicken Hals bekommen hat, wenn so verklärt über seine Heimat schwadroniert wurde und der das flache Land am breiten Strom doch so sehr liebte, war Paul Eßer. Zahlreiche Bücher hat der gebürtige Mönchengladbacher geschrieben, immer wieder hat er sich mit dem Niederrhein beschäftigt.

Im August 2020 starb Paul Eßer im Alter von 81 Jahren – und er hat mit seinem letzten Buch, dessen Veröffentlichungs-Vorbereitungen er noch miterleben durfte, der Region und ihren Menschen eine Art Vermächtnis, einen Auftrag hinterlassen: „Warum sollte der Niederrheiner nicht (…) die Weite seines Landes und die Vielgestaltigkeit seiner historischen Entwicklung, die bunte Zusammensetzung seiner Bewohnerschaft als Einladung zu offenem Denken verstehen (…) warum sollte er nicht die Provinz von falschem Traditionsverständnis freimachen und als Gestaltungsfeld neuer Lebensformen begreifen?“

Der Niederrhein – Provinz?!

Oh, da ist dieses Wort, das in die Seele sticht: Provinz! Der Niederrhein - Provinz! Nunja, wer liebt, tut sich leichter mit schonungsloser Offenheit, und Paul Eßer hat sich sprachlich nie zurückgehalten. Mit spitzer Feder und scharfem Schwert macht er sich auf, dem Niederrhein und seinen Menschen ins Gemüt zu reden, manchmal erheitert das, manchmal verärgert es, manchmal tut‘s weh – und manchmal fühlt man sich ertappt, ihm doch tatsächlich zustimmen zu müssen. Der Titel seines letzten Werkes ist „Niederrhein Heimat“ - und es sind Aufsätze und Gedanken zwischen Pamphlet und Laudatio, Streitschrift und Liebeserklärung. Sohn Torsten Eßer hat das Büchlein vollendet (Satz und Layout) und auf den Markt gebracht. Ein paar Texte sind schon etwas älter – sind mit ihren Grundaussagen aber dennoch ziemlich aktuell.

„Nicht Gott hat den Niederrheiner erschaffen sondern Hanns Dieter Hüsch. Der Niederrheiner – nichts anderes als ein schlau angelegter Publikumsliebling, in dem jeder leicht eigene Züge wiedererkennen kann“.

Und dann haut Paul Eßer uns auch noch den „Ridikülisierungseffekt“ um die Ohren.

Den Begriff hat seinerzeit ein Forscherteam der „Gesamthochschule Duisburg“ noch geprägt und besagt, so Eßer, dass die „Niederrheinmundart als solche schon einen komischen Effekt auslöst, also Gelächter verursacht.“ Irgendwie kommen der Niederrhein und seine Menschen bei Paul Eßer nicht so gut weg. Doch sein Vater habe nicht beleidigen oder ausschimpfen wollen, so Torsten Eßer. „Er wollte zum Nachdenken anregen, wollte bewusst provozieren, um Neues in Gang zu bringen.“

Bei all den niederrheinischen Überlegungen bezieht sich Eßer immer wieder auch auf andere Autoren, die das alles auch schon wussten, ahnten oder beschrieben: Hüsch, Böll, Enzensberger, Geuenich, Plönes, Diesterweg, Cornelissen. Und wir stellen eine ketzerische Paul Eßer-Frage mal in den Raum: „Gibt es jenseits des Kabaretts, jenseits der schönfärbenden Platitüden des Heimatkalenders und der Vernichtungsurteile selbsternannter Inlandsethnographen ein psychogrammatisch fassbares Wesen der niederrheinischen Art?“

Es gibt am Niederrhein kein regionales Identitätsbewusstsein

Antworten findet auch Paul Eßer nicht wirklich. Erklärungen schon. Nicht neu aber auch nicht abgearbeitet ist die abschließende Erkenntnis, dass „es am Niederrhein kein regionales Identitätsbewusstsein“ gibt.

Genau das aber, so Eßer, wäre doch die Chance für die „Bewohner dieses facettenreichen Kulturraumes“. „Warum nicht jenseits von Kirchturmdenken und Lokalpatriotismus, von Schollenromantik und Nivellierung durch großstädtische Normen neue Sinnorientierung suchen?“ Warum, so Eßer, „sollte der Niederrheiner nicht die Weite seines Landes und die Vielgestaltigkeit seiner historischen Entwicklung, die bunte Zusammensetzung seiner Bewohnerschaft als Einladung zu offenem Denken verstehen, zu kritischer Auseinandersetzung mit Neuem und Altem, zu Integration statt Abgrenzung?“

 

Niersleser

Paul Eßers aktuelles Buch über den Niederrhein enthält hintergründige Geschichten über eine Gegend, die eher aus touristischen denn aus historischen Gründen zu einer Region erklärt wurde. Provokant fragt Eßer: gibt es DEN Niederrhein überhaupt? Als ‚Sprachkundiger und zugleich Eingeborener‘ setzt er sich kritisch mit der Region und dem Begriff ‚Heimat‘ auseinander. Er plädiert für Integration statt Ausgrenzung und verachtet die Heimattümelei rechter Kreise. Er schreibt zuweilen bissig, aber nie verbissen. So z. B. das Kapitel über die Wahl der Straßennamen in Mönchengladbach, die er politisch deutet und hinterfragt, warum es eine Hindenburg- und Blücher-, aber keine Ossietzky-Straße gibt. Lehrreich, doch nie belehrend, kommen seine Texte daher. Eher augenzwinkernd als mit Zeigefinger, aber zugleich tiefgründiger als bei Hüsch oder Beikircher.

Jörg entdeckte das Buch in der örtlichen Buchhandlung und erinnerte sich sofort an den Autor, den er zu seinem Buch ‚Niederrhein - Gedanken und Geschichten‘ (Greven-Verlag 2009) und zum Niederrhein-Quiz (Grupello-Verlag 2008) für das Radio interviewt hatte. Keine Frage, dass wir auch das neue Buch vorstellen wollten und sogleich um ein Rezensionsexemplar baten. Das persönlich signierte Buch erreichte uns per Post am 20. August. Jetzt haben wir von seinem Sohn erfahren, dass Dr. Paul Eßer an eben diesem Tag im Alter von 81 Jahren verstorben ist. Wir trauern mit seiner Familie und denken gerne an diesen engagierten, klugen und zugleich humorvollen Menschen zurück. Ein interessanter Gesprächspartner, der schon als junger Mann fast alle Länder Europas, aber auch Kuba, Mexiko und Nicaragua bereiste und doch ‚seinen‘ Niederrhein so sehr liebte. Der sich zeitlebens politisch engagierte und seinen Freund Günter Wallraff bei Recherchen und Aktionen unterstützte.

www.instagram.com/Niersleser                5. September 2020


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